Nach drei Tagen und drei Nächten intensiver Verhandlungen über den neuen Corona-Hilfsfonds ging die Verabschiedung des EU-Haushalts bis 2027 erstaunlich geräuschlos über die Bühne: Wie von der Kommission vorgeschlagen, beschlossen die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel Mitte Juli nicht nur den billionenschweren EU-Haushalt, sondern gewährten der EU auch eine neue Einnahmequelle – die “EU-Plastiksteuer”. Die IK Industrievereinigung hat diesen Vorschlag einem Faktencheck unterzogen.
Danach werden die EU-Mitgliedstaaten ab 1. Januar 2021 ihre jährlichen Beiträge zum EU-Haushalt um 800 Euro für jede Tonne nicht-rezyklierter Kunststoffverpackungsabfälle in ihrem Land erhöhen. Entscheidend ist die Differenz zwischen dem Gewicht der Kunststoffverpackungsabfälle insgesamt und dem Gewicht der rezyklierten Kunststoffverpackungsabfälle. Für Deutschland wären dies mindestens 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.
Auch wenn die Plastiksteuer formell noch von den EU-Finanzministern beschlossen und von sämtlichen Parlamenten der Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss, ranken sich bereits zahlreiche Mythen und Legenden um die Plastiksteuer. Zeit für uns, einige der gängigsten Mythen zu prüfen und Trugschlüsse aufzudecken:
“Die EU-Plastiksteuer wird das Recycling und die Kreislaufwirtschaft fördern.”
FALSCH: Zunächst einmal entzieht die zusätzliche Abgabe den Mitgliedsstaaten dringend benötigte Investitionsmittel für eine bessere Sortier- und Recycling-Infrastruktur für Kunststoffverpackungen. Da die Abgabe nicht zweckgebunden ist, werden diese Investitionen auch nicht über den EU-Haushalt getätigt.
Hinzu kommt: Die Verbesserung des Recyclings von Kunststoffen erfordert erhebliche privatwirtschaftliche Investitionen in innovative Materialien, neue Maschinen und das Design von Kunststoffverpackungen. Solange unklar bleibt, ob die Plastiksteuer auf die Wirtschaft abgewälzt wird, werden diese Investitionen ausbleiben, weil die notwendige Planungs- und Rechtssicherheit fehlt, dass sich die Investitionen auch auszahlen.
“Mit den Einnahmen aus der EU-Plastiksteuer werden die Schulden aus dem Corona-Hilfsfonds zurückgezahlt.”
FALSCH: Wie in Vor-Corona-Zeiten, also im Februar 2020 vorgeschlagen, sollen die Einnahmen aus der Plastiksteuer ausdrücklich nicht zur Rückzahlung der Schulden aus dem Corona Wiederaufbaufonds “Next Generation EU” verwendet werden, sondern in den allgemeinen EU-Haushalt fließen, ohne dass sie zweckgebunden sind.
Dies ist von der Kommission nicht klar kommuniziert worden und wird daher von vielen fälschlicherweise geglaubt. Wie aus den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates klar hervorgeht, sind nur die nach 2021 eingeführten neuen Eigenmittel für die Rückzahlung vorgesehen, was nicht für die Kunststoffsteuer gilt, die zum 1. Januar 2021 eingeführt werden soll.
“Die EU-Kunststoffsteuer ist in Wirklichkeit eine Brexit-Steuer”.
RICHTIG: Die EU-Kommission hatte 2018 erkannt, dass der absehbare Rückzug des Nettozahlers Großbritannien aus der EU ein Loch von mehr als 6 Milliarden Euro pro Jahr in den EU-Haushalt reißen würde. Der Vorschlag, dieses Loch mit einer Plastiksteuer zu stopfen, wird dem damaligen Haushaltskommissar Günther Oettinger zugeschrieben.
In einer Zeit, als der Schock über die Bilder von vermüllten Stränden in Asien noch tief saß, stieß der Vorschlag vielfach auf Zustimmung, ohne dass nach den Einzelheiten gefragt wurde. Im Februar 2020 dann präsentierte die EU-Kommission beim ersten Gipfel zum künftigen EU-Haushalt den konkreten Vorschlag mit dem spezifischen Betrag von 800 Euro pro Tonne nicht recycelter Kunststoffverpackungsabfälle, deren Einnahmen genau die durch den Brexit im EU-Haushalt entstandene Lücke schließen würde.
“Die Einnahmen aus der EU-Plastiksteuer werden nur gering sein”.
FALSCH: Nach aktuellen Schätzungen, die auf den neuesten Eurostat-Daten basieren, wird die Kunststoffsteuer die Mitgliedstaaten insgesamt etwa 6 bis 8 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Deutschland und Frankreich sind die Länder mit den höchsten Beiträgen: Beide Länder werden aufgrund der Plastiksteuer jeweils mindestens 1 Milliarde Euro pro Jahr mehr in den EU-Haushalt einzahlen. Es gibt allerdings auch EU-Mitgliedstaaten, die von einem Rabattmechanismus profitieren werden. Dies sind insbesondere die Staaten, deren Zustimmung zur Plastiksteuer unsicher war.
“Die neue Einkommensquelle ist keine Steuer”.
Teilweise richtig: Die Kommission und die an der Diskussion beteiligten nationalen Politiker werden nicht müde zu behaupten, dass die EU-Plastiksteuer in Wahrheit keine Steuer ist und Unternehmen und Verbraucher nicht belastet. Richtig ist, dass die neue Einkommensquelle direkt nur die Mitgliedstaaten betrifft. Im Jargon des EU-Haushalts ist die Abgabe ein “Eigenmittel” („own resource“), die von den Mitgliedstaaten in den EU-Haushalt einzuzahlen ist.
Wäre die EU jedoch ein Staat und würde die Kunststoffabgabe für Unternehmen gelten, dann wäre die Abgabe eine “Steuer”, da die Schuldner keine Gegenleistung erhalten und ihre Einnahmen nicht zweckgebunden sind, sondern in den allgemeinen Haushalt fließen.
“Die EU-Plastiksteuer fördert die Manipulation der Abfallstatistik”.
RICHTIG: Es ist unter Abfallexperten allgemein bekannt, dass die Grundlage der EU-Kunststoffsteuer, die Eurostat-Abfallstatistik, zwischen den Mitgliedstaaten nicht ernsthaft vergleichbar ist, da die Art und Weise, wie die Zahlen generiert werden, von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich ist.
Wer hätte zum Beispiel vermutet, dass – nach den neuesten Eurostat-Daten – die Länder mit den höchsten Recyclingraten für Kunststoffverpackungen Litauen, Zypern und Bulgarien sind? Bisher hatten die nationalen Recyclingraten keine wirklichen Auswirkungen – solange die EU-Ziele erreicht wurden.
Jetzt, mit den direkten Auswirkungen des Recyclings auf die nationalen Zahlungen an den EU-Haushalt, wird erwartet, dass die Menge der Kunststoffverpackungen, die statistisch als recycelt gemeldet werden, deutlich zunehmen wird – ebenso wie die Kreativität der Mitgliedstaaten, die Statistiken noch stärker zu verdrehen. Was verloren geht, ist die Vergleichbarkeit und vor allem die Vorbildfunktion der Länder, die tatsächlich mehr recyceln.