„Die Kreislaufwirtschaft muss zum Leitprinzip werden“
Im Dialog mit Dr. Markus Steilemann, Präsident von PlasticsEurope und Vorstandsvorsitzender von Covestro
Die Kunststoffindustrie steht auf dem Feld der Nachhaltigkeit in der Kritik. Öffentliche Debatten werden oft emotional geführt. Durch den Klimawandel schauen viele Verbraucher:innen anders auf den Konsum. Hat diese Branche überhaupt die Chance, vorbildlich zu werden und auch so wahrgenommen zu werden?
Die verbreitete Negativsicht auf Kunststoffe verstellt oft den Blick für das Wesentliche: Plastik ist ein hochinnovatives und auch absolut nachhaltiges Material, ohne das es einfach nicht geht. Unsere heutige Welt und die klimaneutrale Welt, die wir erschaffen wollen, sind nur mit Kunststoffen möglich. Und dafür bringen sie eine Ökobilanz mit, die vielfach besser ist als bei anderen Werkstoffen.
Um Glas, Metall und insbesondere Papier herzustellen und zu rezyklieren, sind ja gewaltige Mengen an Energie nötig. Ein Beispiel: Für die Herstellung einer Tüte aus Papier braucht man fast doppelt so viel Energie wie für eine Plastiktüte. Und man müsste die Papiertüte ungefähr dreimal so oft nutzen, damit die Ökobilanz ausgeglichen ist. Eine gute Eigenschaft gereicht dem Kunststoff freilich zum Nachteil – seine Langlebigkeit. Deswegen sehen wir auch so viel Plastikmüll in der Umwelt, während zum Beispiel im Meer anderer Abfall schneller versinkt und buchstäblich aus dem Blick gerät. Das Hauptproblem liegt jedoch woanders: Wir brauchen dringend ein viel besseres Abfallmanagement, und zwar global. Ideal wäre es, wenn überall auf der Welt die Kreislaufwirtschaft als Leitprinzip eingeführt würde.
Die Kreislaufwirtschaft ist ja eines Ihrer großen Themen. Warum setzen Sie sich so stark dafür ein und was tut Covestro in dieser Hinsicht?
Das Plastik im Meer und überhaupt die Vermüllung unserer Umwelt zeigen: Es muss sich grundsätzlich etwas ändern in unserem Verhältnis zu Konsum und Produktion. Die Menschheit lebt über ihre Verhältnisse. Sie erwähnten gerade, dass sich im Verbraucherverhalten etwas bewegt, und das ist gut so. Nötig ist aber ein wirklich umfassender, systematischer Ansatz, der uns aus der Ex-und-hopp-Mentalität bringt.
Produzieren, konsumieren, wegwerfen – dieses lineare System führt in die Sackgasse. Wirtschaft und Gesellschaft müssen konsequent auf den zirkulären Gedanken umstellen: Güter länger und öfter nutzen; sie so bauen, dass sie einfach repariert und gut recycelt werden können. Ausgediente Produkte als Ressource sehen und Abfall möglichst vermeiden. Und: Keine fossilen Rohstoffe mehr nutzen, die CO2 freisetzen. All diese Ansätze wollen wir als Covestro unterstützen und gleichzeitig das gesamte Unternehmen auf die Kreislaufwirtschaft ausrichten.
Was unternimmt Covestro denn hier konkret?
Vor allem stellen wir unsere Rohstoffbasis um. Weg vom Öl, von petrochemischen Rohstoffen, hin zu Ressourcen, die erneuerbaren Kohlenstoff liefern, den wir im Kreislauf führen können. Hier kommt Biomasse ebenso infrage wie Kunststoffmüll und zunehmend sogar CO2.
Eine langfristige, riesige Transformation, die natürlich nicht nur unser Unternehmen allein betrifft. Die ganze Kunststoffbranche steht vor einer regelrechten Rohstoffrevolution. Zu den erneuerbaren Rohstoffen muss aber erneuerbare Energie kommen, sonst bleibt die Kreislaufwirtschaft Stückwerk. Auch hier muss die Branche einen Kraftakt bewältigen.
Können Sie das näher erläutern?
Die gesamte deutsche Chemieindustrie braucht auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050 gigantisch viel Ökostrom. Der muss verlässlich bereitstehen und gleichzeitig so preiswert sein, dass wir im internationalen Wettbewerb mithalten können. Das ist extrem wichtig. Wenn wir hierzulande nicht die richtigen Rahmenbedingungen hinbekommen, bleibt unsere Branche als Lok der Klimaneutralität auf der Strecke.
Mehr noch: Ich befürchte, dass wir dann viele hochqualifizierte Arbeitsplätze verlören und sich die Produktion in Regionen mit weniger hohen Klima- und Umweltstandards verlagerte, während unsere Abhängigkeit von Importprodukten größer würde. Viele Herausforderungen also für den Sektor und für Covestro. Wir selbst kommen aber Schritt für Schritt voran: Noch in diesem Jahr wollen wir zum Beispiel die weltweit ersten klimaneutralen Polycarbonat-Kunststoffe einführen, innovativ produziert vom Erfolgsduo aus erneuerbarem Kohlenstoff und grüner Energie.
Inwieweit helfen Innovationen im klassischen mechanischen Recycling, den Kunststoff-Kreislauf zu schließen?
Innovatives Recycling zu fördern, ist eine weitere Säule in unserem Kreislaufwirtschaftsprogramm. Hier sehen wir die Möglichkeiten des werkstofflichen Recyclings noch lange nicht ausgereizt. Zum Beispiel können wir es jetzt auch bei Verbundwerkstoffen anwenden. Das ist eine besondere Herausforderung, weil diese aus verschiedenen Materialien bestehen, die nicht einfach voneinander getrennt werden können.
Sie haben jüngst gesagt, dass chemisches Recycling heute auf einem Stand wie die Elektromobilität vor zehn Jahren sei. Was kann kurzfristig erreicht werden, wie ist das mittelfristige Potenzial? Ist chemisches Recycling womöglich der Game Changer bei der Kreislaufwirtschaft?
Für viele Kunststoffe ist es sogar die einzig mögliche Methode der Wiederverwertung. Denn bei stark verschmutztem und nicht sortenreinem Abfall stößt das mechanische Recycling an seine Grenzen. Die überwinden wir, wenn wir den Plastikmüll chemisch auflösen, in seine Moleküle zerlegen und aus diesen wiederum neue Molekülketten und neue Kunststoffe bilden. So kann man jedes Produkt in ein beliebiges anderes verwandeln – eine wahre Zauberformel. Nur mit chemischem Recycling bekommen wir es hin, Kunststoffe im großen Stil zu recyceln. Das ist freilich noch ein weiter Weg. Erstmal steht an, die Technologie weiterzuentwickeln und für den Industriemaßstab zu erproben. Hier würden mehr Reallabore helfen. Und die richtigen Rahmenbedingungen – etwa indem das Verfahren abfallrechtlich explizit als Recycling anerkannt wird.
Was sagen Sie den Gegnern des chemischen Recyclings, die zum Beispiel den hohen Energieaufwand kritisieren?
Denen sage ich: Ja, das neue Verfahren braucht recht viel Energie. Aber wir sehen zu, dass sie aus erneuerbaren Quellen stammt, damit das chemische Recycling einen guten Carbon Footprint hat. Insgesamt wird der Prozess durch Innovationen immer ausgereifter. Und natürlich gelten auch hier strenge Umweltauflagen. Es ist wird fortlaufend daran gearbeitet, dass weniger Nebenprodukte anfallen und das Handling immer sicherer wird. Übrigens: Immer mehr Kunststoffhersteller sind vom chemischen Recycling überzeugt. Beim Verband PlasticsEurope wollen die Mitglieder in den kommenden Jahren zunehmend in diese Technologie investieren – 2030 bereits mehr als sieben Milliarden Euro.
Was wünschen Sie sich von der künftigen Bundesregierung und der EU?
Dass sie den Schritt vom Reden zum Handeln, von der Ankündigung zur Umsetzung hinbekommen. Dass sie den richtigen Rahmen setzen, damit wir als Industrie endlich losspurten können Richtung Klimaneutralität. Im Moment können wir uns nur vorantasten. Es fehlt zum Beispiel an Planungssicherheit für die Investitionen in die grünen Großprojekte, die dringend getätigt werden müssten.
Von der Unklarheit hinsichtlich einer global tragfähigen CO2-Bepreisung ganz zu schweigen. Hier ist mein großer Wunsch und der vieler meiner Kollegen, dass die deutsche und europäische Politik im Austausch mit der Industrie rasch die Weichen stellt, damit unser Land und der Kontinent wirklich zum Vorreiter grüner Zukunftstechnologien und zirkulärer Systeme werden. Die Chemie steht dafür jedenfalls Gewehr bei Fuß. Was ich mir noch wünsche: weniger Gängelung und Paragraphenreiterei, mehr offenen, fakten- und wissenschaftsbasierten Dialog, mehr Mut, Fortschrittsoptimismus und Risikobereitschaft.
Welche Rolle sehen Sie bei Verbänden bei der Gestaltung und Umsetzung von Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsmaßnahmen?
Ich bin ja in vielen Organisationen aktiv, sitze im Präsidium des Verbands der Chemischen Industrie und habe die Ehre, PlasticsEurope als Präsident zu dienen. Das täte ich natürlich nicht, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass die Verbandsarbeit absolut wichtig, ja unerlässlich ist: um der Chemie Gehör zu verleihen, um Expertise zu bündeln, den Informationsfluss zu steuern und die Integration nach innen zu fördern. Das ist gerade in Zeiten wie diesen wichtig – angesichts der immensen Transformation, die unsere Branche Richtung Klimaneutralität und Nachhaltigkeit insgesamt bewältigen muss. Gerade Chemie und Kunststoffe müssen das hinbekommen, denn wir haben ja einen erheblichen Abstrahleffekt auf die Nachhaltigkeitsaktivitäten sehr vieler anderer Branchen. Klimaneutrale Mobilität, nachhaltiges Bauen, weitere Umwälzungen bei erneuerbarer Energie – all diese Herausforderungen sind ohne Chemie und Kunststoffe nicht zu bewältigen.
Über Dr. Markus Steilemann
Dr. Markus Steilemann ist seit Juni 2018 Vorstandsvorsitzender von Covestro und seit Juni 2020 Präsident von PlasticsEurope.
1999 begann Steilemann seine berufliche Karriere beim Bayer-Konzern. Ab 2008 bekleidete er Führungspositionen im Geschäftsbereich Polycarbonates von Bayer MaterialScience, der Vorgängerorganisation von Covestro. Von 2013 bis 2015 stand er an der Spitze des gesamten Segments mit Hauptsitz in China, wo er mehrere Jahre lebte.
Zurück in Deutschland, wurde Steilemann 2015 Mitglied des Vorstandes von Covestro mit Verantwortung für den Bereich Innovation. Zu seinem Verantwortungsbereich als CEO gehören Strategie, Nachhaltigkeit, Personal und Kommunikation. Strategischer Schwerpunkt seiner Arbeit bei Covestro ist die umfassende Ausrichtung des Unternehmens auf die Kreislaufwirtschaft.
Außerdem ist er Vizepräsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Ferner gehört er dem Präsidium des europäischen Chemie-Dachverbandes Cefic sowie dem Vorstand des ICCA an, dem Weltverband der Chemieverbände.