Christian Sigmund arbeitete erst für Google in Dublin, dann für YouTube in London. Bis ihm klar wurde, vor welchen gewaltigen Herausforderungen die Weltgemeinschaft steht. Um sich diesen anzunehmen, kündigte er und schlug ein ganz neues Kapitel in seinem Leben auf: Gemeinsam mit einigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern gründete er WILDPLASTIC®. Das Unternehmen hat das Ziel, das „wilde Plastik“ – Plastik, das in der Umwelt liegt – wieder zurück in den Kreislauf zu bringen. Im Interview haben wir mit Christian Sigmund über Innovation und Transformation im Kontext von Kunststoffverpackungen in einer effizienten Kreislaufwirtschaft und über dringend notwendige Veränderungen gesprochen.
Jedes Jahr landen über 50 Millionen Tonnen Kunststoffe in der Umwelt – und richten dort einen gewaltigen Schaden an. WILDPLASTIC® wurde von einer Gruppe von Menschen gegründet, die handeln wollten, anstatt nur über das Problem zu sprechen. Jeder hat seine eigenen, persönlichen Erfahrungen mit der Vermüllung des Planeten gemacht – in einer Sache waren sich jedoch alle einig: Jetzt oder nie. WILDPLASTIC® sorgt dafür, dass „wildes Plastik” wieder in den Kreislauf gelangt. Und das mit großem Erfolg: Das Unternehmen hat zum Beispiel bewirkt, dass die Versandtaschen bei OTTO auf WILDPLASTIC® umgestellt und das Goldeimer Toilettenpapier in WILDPLASTIC® verpackt werden. 2024 wurden das Unternehmen und Goldeimer mit dem Deutschen Verpackungspreis und dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet.
Was bedeutet Innovation und Transformation für Sie im Kontext von Kunststoffverpackungen und einer effizienten Kreislaufwirtschaft?
„Für eine echte Kreislaufwirtschaft müssen wir uns an vielen Stellen transformieren. Die Umstellung auf Recycling allein reicht nicht aus. Vielmehr braucht es einen reduzierten Materialeinsatz, ein Verpackungsdesign, das für unsere bestehenden Recyclingsysteme funktioniert und neue Konzepte wie Mehrweg und Re-Use (Wiederverwendung).“
Über WILDPLASTIC® :
WILDPLASTIC® stellt Müllbeutel, Versandtaschen und Polybags aus „wildem Plastik” her, welches aus der Umwelt gerettet wurde. Hierfür arbeiten sie mit Partnerinnen und Partnern weltweit zusammen und bauen nachhaltige Lieferketten auf. Ziel ist es, so viel wildes Plastik wie möglich in bestehende Recyclingkreisläufe zurückzuführen. Darüber hinaus setzt sich das in Verantwortungseigentum gegründetete Unternehmen für eine zukunftsweisende Wirtschaft und ein nachhaltiges Unternehmertum ein.
Kunststoffverpackungen hängt ein schlechtes Image an. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
„Kunststoff war in den 50er Jahren erst das Wundermaterial, dann gab es Meere voller Plastik, Plastik in unseren Körpern, Plastik in der Umwelt. Überall Horrorbilder. Dabei wird vergessen, dass nicht Plastik per se das Problem ist, sondern die Art, wie wir mit dem Material umgehen. Wäre das Recycling von Plastik von Anfang an mitgedacht worden und mitgewachsen, dann stünden wir jetzt nicht vor unseren aktuellen Problemen: Viel zu viel Plastik, viel zu niedrige Recyclingquoten und viel zu günstige Primärkunststoffe.
Plastik ist nicht der Bösewicht, Papier ist beispielsweise auch nicht besser. In vielen Bereichen unseres Lebens können wir aktuell nicht auf Plastik verzichten. Insbesondere deswegen müssen wir lernen, anders damit umzugehen und von Neuplastik auf Recyclingplastik wechseln. Gleichzeitig müssen wir langfristig in die Forschung von Plastikalternativen und deren Marktfähigkeit investieren.“
Was können Verbraucherinnen und Verbraucher tun, um den Konsum und den Umgang mit Kunststoffverpackungen nachhaltiger zu gestalten?
„Die ultimative Verantwortung für einen Wandel liegt nicht bei Verbraucherinnen und Verbrauchern. Aber sie können durch ihre Kaufentscheidungen den Unterschied machen. Ein gutes Beispiel ist die Rügenwalder Mühle. Sie macht mittlerweile mehr Umsatz mit vegetarischen und veganen Alternativprodukten als mit Fleischprodukten. Diese Veränderung haben Verbraucherinnen und Verbraucher durch ihre Kaufentscheidungen vorangetrieben. Das kann auch bei Kunststoffverpackungen möglich sein.
Wir sehen die Verantwortung vielmehr bei Konzernen und der Politik. Deswegen fokussiert sich WILDPLASTIC® mittlerweile auf den B2B-Sektor. Die Politik hat die Möglichkeit, durch Regularien und Gesetze Unternehmen in die Verantwortung zu nehmen, wo sie es selbst bisher nicht tun. Hier passiert bereits einiges, auch durch die EU-Verpackungsverordnung (Packaging and packaging waste, amending Regulation (EU) 2019/1020 and Directive (EU) 2019/904, and repealing Directive 94/62/EC). Allerdings ist die Kunststoff-Lobby sehr stark und Veränderungen schreiten nur langsam voran.“
Über Christian Sigmund :
Christian Sigmund hat Medienkommunikation in Köln studiert. Unter seiner Führung konnte WILDPLASTIC® im vergangenen Jahr mehr als 170 Tonnen wildes Plastik sammeln, in den Recycling-Kreislauf zurückführen und damit 321 Tonnen CO2 einsparen. Ein zentrales Produkt des Unternehmens sind die „Wildbags“ – Müllbeutel, die zu 100 Prozent aus recyceltem wildem Plastik bestehen. Der Mitgründer und Geschäftsführer von WILDPLASTIC® glaubt fest an Impact Entrepreneurship und arbeitet daran, globale Lösungen für die heutigen Umweltprobleme zu entwickeln. „Wir bringen verlorene Kunststoff-Fraktionen zurück in den Kreislauf, indem sie an den vermülltesten Orten gesammelt, sortiert und zum Recycling aufbereitet werden. Innovation bedeutet an dieser Stelle keinen neuen, technischen Prozess, sondern eine Systeminnovation mit einer neuen Lieferkette“, erklärt Christian Sigmund. „Wenn wir morgen noch Kunststoffe einsetzen, dann müssen wir das unglaubliche Potenzial der Materialien von gestern erkennen und entfalten!“
Warum importieren Sie wildes Plastik gerade aus Indien, Indonesien, Thailand und dem Senegal?
Wie sieht Ihre Zusammenarbeit mit Ihren Partnerinnen und Partnern und Sammelorganisationen aus?
„Basis für die Auswahl der Sammelregionen ist eine Analyse der Kunststoffemissionen in die Umwelt. Einige Länder haben eine Quote von 90 Prozent, wohingehend in Deutschland nur 0,5 Prozent in die Umwelt gelangen.
Seit der Gründung von WILDPLASTIC® hatten wir mit einer Vielzahl von Organisationen in verschiedenen Ländern weltweit Kontakt. Mit einigen haben wir auch erste Containerlieferungen getestet. Unsere Partnerorganisationen sind diejenigen, die aktuell am besten zu unserer Mission passen. Wir sind aber auch weiterhin auf der Suche nach neuen Partnerinnen und Partnern in ganz unterschiedlichen Ländern. Denn wir wollen unser Netzwerk kontinuierlich ausbauen. Da wir nicht in unseren Partnerländern vor Ort sitzen, ist die Zusammenarbeit vorwiegend digital und basiert ein Stück weit auch immer auf gegenseitigem Vertrauen.“
Warum sammeln Sie aktuell ausgerechnet LDPE und planen Sie, in Zukunft auch andere Kunststoffe zu sammeln?
„LDPE wird weltweit aktuell nur zu sechs Prozent recycelt und bleibt 500 bis 1.000 Jahre in der Umwelt, bis es sich zu Mikroplastik zersetzt. PET hingegen wird bereits zu 35 Prozent recycelt.
Wir haben uns bewusst für LDPE entschieden, da es kommerziell bisher keinen Wert hat und deswegen kaum gesammelt wird. Gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern sorgen wir dafür, dass LDPE aus der Umwelt zurückgeholt und tatsächlich recycelt wird. Wir haben bereits gezeigt, dass wildes LDPE in hoher Qualität skalierbar recycelt werden kann. Am Anfang unserer Reise mussten wir vor allem bei Produzentinnen und Produzenten viel Überzeugungsarbeit leisten, mittlerweile haben wir viele begeisterte Unterstützerinnen und Unterstützer unter ihnen.“
Wie gehen Sie mit der Herausforderung um, dass gesammelter Kunststoff unterschiedlich stark verschmutzt ist?
„Wildes Plastik ist nicht perfekt. Das Material, das wir nutzen, lag unterschiedlich lange in der Umwelt und hat deswegen auch immer einen anderen Verschmutzungsgrad. Gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern arbeiten wir daran, die Säuberung des Materials so effektiv wie möglich zu gestalten, damit die Qualität am Ende dem entspricht, was wir unseren Kundinnen und Kunden versprechen.“
Eine der größten Herausforderungen von WILDPLASTIC® ist der Preis, den die Produkte kosten. Das Material ist teilweise zwei- bis dreimal so teuer wie Neuplastik. Das liegt unter anderem daran, dass das Material vor Ort von Hand gesammelt und sortiert sowie anschließend nach Europa transportiert wird. Zudem ist Neuplastik sehr günstig und wird von der Politik nicht besteuert. Christian Sigmund weiß aber, dass Kundinnen und Kunden dann bereit sind, den höheren Preis zu zahlen, wenn sie die Hintergründe der Arbeit verstehen. Auf dem Weg dahin muss das Unternehmen noch viel Aufklärungsarbeit leisten. Genau diese Herausforderungen macht die Branche für Christian Sigmund aber auch so interessant.
Die „Kunststoffverbesserer“: Sie sind die aufstrebenden Talente in der Welt der Kunststoffverpackungen – jung, ambitioniert und mit Lust auf Transformation. Sie entwickeln neue Produkte, stehen für eine veränderte Unternehmenskultur und prägen die Branche maßgeblich, obwohl sie erst am Anfang ihrer Karriere stehen. Deshalb widmet die IK ihnen mit der Interview-Serie „Kunststoffverbesserer“ ein eigenes Format.