Dr. Claas Oehlmann ist Geschäftsführer der BDI-Initiative Circular Economy. Im Interview spricht er darüber, warum es nicht nur europaweit Konsens über Definition und Rahmenbedingungen für die Kreislaufwirtschaft bedarf, sondern diese größer gedacht werden muss. Eine entscheidende Rolle spielen dabei tragfähige Geschäftsmodelle im Wertschöpfungskreislauf. Diesen ganzheitlichen Blick braucht auch die Politik.
Herr Dr. Oehlmann, die BDI-Initiative Circular Economy besteht seit 2021 und vereint ein Netzwerk aus mehr als 60 Akteuren Industrien. Von Amazon über den Gesamtverband der kunststoffverarbeitenden Industrie e.V. (GKV) bis hin zum ZVEI decken Sie alle Branchen ab. Können Sie kurz die Ziele und Aktivitäten der Initiative skizzieren?
Unsere Mitglieder setzen sich aus unterschiedlichen Wirtschaftssektoren und Wertschöpfungsstufen zusammen, um im Bereich Kreislaufwirtschaft wirklich sprachfähig zu sein. Mittlerweile sind wir ein Netzwerk aus Verbänden, Unternehmen, Start-Ups und Forschungseinrichtungen und damit eine in Deutschland einmalige Plattform. Die Initiative resultierte aus der Erkenntnis, dass wir als Gesamtindustrie beim Thema Kreislaufwirtschaft reaktiv unterwegs waren und lange unser kleinster gemeinsamer Nenner aus den Punkten bestand, die wir alle ablehnen. Uns fehlte der gestalterische Anspruch an das Thema Kreislaufwirtschaft und wie unsere industrielle Vorstellung davon aussieht, gerade mit Blick auf die nationale und europäische Gesetzgebung. Diesen Kulturwandel hin zu einer aktiven gestalterischen Rolle zu schaffen, ist unser Ziel. Zudem wollten wir unser Netzwerk stärken und gemeinsames Wissen aufbauen.
Bei dieser großen Bandbreite an Akteuren ist es wahrscheinlich auch eine Herausforderung, als Verband zum Konsens zu gelangen?
Der Vorteil ist, dass die verschiedenen Unternehmen materialübergreifend voneinander lernen können. Dafür bieten wir als Plattform, und nicht als klassischer Verband, ein neues Umfeld. Im Kunststoffbereich haben wir eine viel härtere Diskussion rund um Closed-Loop-Recycling als in anderen Sektoren. Aber ob immer der Milligramm-Nachweis in einem bestimmten Produkt nötig ist, das könnte man in Frage stellen, wenn wir das große Rad der Transformation drehen wollen. Aus unserer Perspektive heißt das auch: Wir brauchen objektive Kriterien für die unterschiedlichen Materialien mit ihren jeweiligen Vorteilen für verschiedene Anwendungen. Dann gibt es fairen Wettbewerb.
Wie stehen die Chancen für eine echte Materialneutralität in der Regulierung? Im Moment ist die kunststoffverarbeitende Industrie leidtragend.
Diese Fokus gibt es ja schon seit mehreren Jahren, Beispiel Single-Use Plastics Directive der letzten Kommission. Politik resultiert aus dem Anspruch, „Richtig“ zu regulieren, sie reagiert auf gesellschaftliche Entwicklungen und Stimmungen und natürlich auch auf Wahlzyklen. Das Kunststoffe dabei anders im Mittelpunkt stehen als beispielsweise Glas, ist einerseits nachvollziehbar. Wir müssen uns jetzt aber bei den nachgelagerten Regularien der EU-Verpackungsverordnung, etwa den delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechtsakten, für Materialneutralität einsetzen. Wir haben in den nächsten Jahren noch viel zu tun, da entscheidet sich vieles erst mit der Ausgestaltung von Produktanforderungen und Berechnungsmethoden. Ich halte es aber für eine Illusion, dass wir unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Materialcharakteristiken in den nächsten Jahren Kunststoff, Papier, Glas und Stahl im öffentlichen Diskurs auf das gleiche Level bringen.
Oftmals blendet die Gesetzgebung die Realität der kunststoffverarbeitenden Industrie aus, Stichwort Rezyklateinsatzquote vs. verfügbare Menge an Rezyklaten. Was könnte die Branche tun, um sich in solchen Fällen mehr Gehör zu verschaffen?
Ein Grundproblem liegt schon in der Tatsache, dass die jeweiligen Generaldirektionen bzw. die zuständigen Fachebenen unterschiedliche Rezyklateinsatzquoten vorschlagen, einmal für Verpackungen, dann perspektivisch für Textilien und für Neufahrzeuge. Eine übergreifende Folgenabschätzung, wie sich diese Quoten auf den Markt für Kunststoffe auswirken, ist nie erfolgt. Politisch ist komplett verkannt worden, welche Sogwirkung die Quoten erzeugen können und woher das Material stammen soll. Wir müssen zukünftig noch viel mehr hochwertig mechanisch recyceln. Auch Chemisches Recycling ist aussichtsreich, da braucht es aber noch Zeit, gute Rahmenbedingungen, Entwicklung und einen Blick auf die wirtschaftlichen Auswirkungen und die Machbarkeit im Einzelnen. Und wir müssen dann zusehen, dass wir keine Rezyklat-Importe aus Drittstaaten bekommen, die vielleicht keine sind. Außerdem gilt es, das Thema globale Märkte im Blick zu behalten und die Hersteller vor einem Verbot der Inverkehrbringung zu schützen, wenn nachweislich kein Rezyklat verfügbar ist. Dieses übergreifende Denken beim Thema Kreislaufwirtschaft, das wir auch von uns immer einfordern, muss in der neuen EU-Administration verankert werden. Unter dem Strich brauchen wir mehr Sicherheit im Markt für recycelte Kunststoffe und dadurch abgesicherte Investitionen in die erforderliche Infrastruktur in der EU.
Kreislaufwirtschaft kann nur international gedacht werden, damit sie funktioniert. Wo stehen wir da im Moment – und welche Rolle spielt dabei die Regulatorik, insbesondere in der EU?
Wir finden es richtig, dass wir uns den Binnenmarkt vornehmen und auch da mit den Fragmentierungen Schluss machen wollen, was etwa Verpackungsdesign oder Kennzeichnung angeht. Hier in Europa muss die Harmonisierung des Binnenmarkts unser Instrument sein, wenn wir das Thema Kreislaufwirtschaft wirklich skalieren und Klimaneutralität erreichen wollen. Dann brauchen wir aber auch Binnenmarktrecht und können nicht weiter nur mit Umweltrecht Binnenmarktpolitik umsetzen. Wir stecken noch mitten in einer Entwicklung der Kreislaufwirtschaft von einer rein ökologischen Motivation hin zu einem Marktthema mit ökologischer, ökonomischer und sozialer Dimension.
Für Gesetze gelten oft nationale Grenzen, für den Stoffkreislauf nicht. Wie sieht die Regulatorik auf globaler Ebene aus?
Wenn wir die europäische Diskussion im globalen Kontext einordnen, stehen wir noch ganz am Anfang des Austausches auf internationaler Ebene. Ich habe kürzlich Unternehmen in China besucht, da besteht sehr großes Interesse daran, was in der EU mit dem Green Deal passiert und wie wir unsere Handelsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt der Kreislaufwirtschaft weiterentwickeln können und müssen. Aber auch in südamerikanischen und afrikanischen Staaten sowie den USA gibt es Strategien zur Kreislaufwirtschaft. Insgesamt fehlt aber noch ein gemeinsames Verständnis, wie wir Kreislaufwirtschaft in internationalen Beziehungen verstehen, messen und nachweisen. Dafür brauchen wir mehr Dialog, Standardisierung und Abkommen.
Welche Rolle spielen Unternehmen und Verbände, wenn wir über Standardisierungen in der Circular Economy sprechen?
Einige unserer Mitglieder engagieren sich schon seit Jahren und aktiv in nationalen, europäischen und internationalen Normungsorganisationen. Das ist für die gesamte deutsche Industrie absolut verdienstvoll und wird oft viel zu wenig wahrgenommen. Unsere Aufgabe als Plattform ist es, verlässliche Rahmenbedingungen mitzugestalten, die Unternehmen bei der Umsetzung von zirkulären Strategien helfen. Das heißt, es müssen Geschäftsmodelle ermöglicht werden. Dafür brauchen wir intelligente Gesetzgebung, aber zunehmend auch nationale, europäische und internationale Normen und Standards für das zirkuläre Wirtschaften. Das heißt, Unternehmen müssen sich gerade für Themen der Circular Economy in Standardisierungsorganisationen wie dem DIN und DKE, CEN/Cenelec und bei ISO einbringen. Es muss in der Breite bei Unternehmen aber auch bei der Politik klar werden, dass dieses Engagement für den Industriestandort von strategischer Bedeutung, weil hier unter anderem die Rahmengesetzgebung des Green Deal konkretisiert und im Idealfall auch internationalisiert wird. Das ist dann eine Frage von Ressourcen. Die müssen zur Verfügung gestellt werden. International müssen wir da aufholen, weil andere Wirtschaftsräume diese Bedeutung auch erkannt haben und Normen und Standards nach ihren Vorstellungen mitgestalten. Ich weiß, dass Normungsarbeit für Unternehmen mühsam sein kann, weil sie keinen direkten monetären Erfolg bringt. In dieser Hinsicht müsste man auch auf politischer Ebene diskutieren, ob und wie die Bundesregierung Deutschland als internationalen Industriestandort mit Kreislaufwirtschaft zukünftig fördern will.
Die Kunststoffverpackungsindustrie befindet sich mitten in einem Transformationsprozess in Richtung Kreislaufwirtschaft. Wie bewerten Sie das bis jetzt Geleistete mit Blick auf Rezyklateinsatz und Recyclingfähigkeit?
Der Weg in Richtung Transformation ist beschritten. Dieser wird vermutlich steinig, weil so viele andere Rahmenbedingungen, wie Standortfaktoren, wie Energiepreise, die Dauer von Genehmigungsverfahren, digitale Infrastruktur und Regulatorik mit hineinspielen. Für manche Unternehmen bedeutet Kreislaufwirtschaft zudem eine radikale Umstellung des Geschäftsmodells, in einer Zeit, die ohnehin herausfordernd ist. Beim Thema Design for Recycling ist bereits viel Arbeit geleistet worden. Der PET-Flaschenkreislauf, aus dem Material in Lebensmittelqualität hervorgeht, ist zudem ein Erfolg. Wir müssen uns andererseits aber auch fragen, ob es sinnvoll ist, dass dieses gute Material beispielsweise in eine Anwendung außerhalb Verpackungskreislaufs fließt, die letztlich in der Verbrennung landet. Seitens der Politik wünsche ich mir auch an der Stelle Anreizsysteme, die optimierte Designs im Sinne der Kreislaufwirtschaft hart anrechenbar machen.
Welchen Rat würden Sie sowohl Politik als auch Unternehmen noch gerne mit an die Hand geben wollen, damit wir wirklich das Beste aus dieser Transformationsentwicklung herausholen?
Zunächst möchten wir als Plattform noch besser werden, in beide Richtungen zu erklären. Mit Blick auf unsere Mitglieder wäre da etwa die Frage, warum manche Themen auf die politische Agenda geraten und andere wiederum nicht. Dann wird auch verständlicher, wann und wo es Möglichkeiten zum Mitgestalten gibt und warum sich das lohnt. Unternehmen ermutige ich, auch Politikerinnen und Politiker von außerhalb ihrer Wahlkreise an die Standorte zu holen. Mit dieser menschlichen Verbindung, die in solchen Gesprächen passiert, entsteht oftmals unideologisches Wissen, ohne dass man direkt über die große Politik spricht. Ich wünsche mir auch mehr Einigkeit. Wir müssen verstehen, dass es um den gesamten Standort Deutschland und Europa und nicht um Partikularinteressen geht. Das gilt auch in Richtung der Politik. Dort muss klar sein: wenn aus dem Kreislauf ein oder zwei Glieder wegfallen, dann war es das.
Über Dr. Claas Oehlmann:
Dr. Claas Oehlmann studierte Politik-, Kommunikations- und Rechtswissenschaften in Mannheim, Fulda und Bremen. Zudem absolvierte er den Master of Business Administration in Sustainability Management an der Leuphana Universität Lüneburg. Im Rahmen seiner Dissertation und zahlreichen weiteren Fachpublikationen befasste er sich mit der Notwendigkeit zur Fortentwicklung des europäischen Abfall- zu einem Kreislaufwirtschaftsrecht.
Seine berufliche Laufbahn begann Dr. Oehlmann 2012 als Referent für Ressourcenpolitik beim Bundesverbands der Deutschen Entsorgungswirtschaft (BDE) in Brüssel. Nach Stationen in der Unterabteilung Kreislaufwirtschaft und Ressourcenschonung im Bundesumweltministerium und der Umweltabteilung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) ist Claas Oehlmann seit Juni 2021 Geschäftsführer der BDI-Initiative Circular Economy.
Über die BDI-Initiative Circular Economy:
Mit der BDI-Initiative Circular Economy hat der BDI im April 2021 eine eigene Plattform für die industrielle zirkuläre Wertschöpfung gegründet. Die Initiative aus mehr als 60 Unternehmen, Start-Ups, Branchenverbänden und Forschungseinrichtungen aller Sektoren verfolgt das Ziel, Gestalter der Entwicklung hin zu einer innovativen Circular Economy zu sein. Die in der Initiative engagierte Mitglieder setzen sich für regulatorische Rahmenbedingungen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene ein, die positive Anreize für die Entstehung von Märkten für zirkuläre Produktion, Rohstoffe, Produkte und Geschäftsmodelle setzen. Die Initiative betrachte dazu drei wesentliche Themenfelder: Rohstoffe, Produkte und Dienstleistungen der Circular Economy (1), Technologie, Digitalisierung und Standardisierung (2) und Klimaschutzpotenziale der Circular Economy (3).