„Die Digitalisierung wird die Kreislaufwirtschaft auf den Kopf stellen“
Wie gelingt der Umbau der ressourcenintensiven, linearen Ökonomie hin zu einer Kreislaufwirtschaft, bei der der Wert und die in Produkten enthaltenen Rohstoffe nach ihrer Nutzungsphase möglichst optimal erhalten bleiben? Welche Rolle spielt dabei die Digitalisierung und was müssen Wirtschaft, Verbraucher und Politik dazu dringend beitragen? Darüber haben wir mit Dr. Henning Wilts vom Wuppertal Institut gesprochen.
Vor rund 30 Jahren sind erstmals Regeln zur Abfalltrennung in Kraft getreten. Besonders mit dem Gelben Sack zeigt sich Deutschland richtungsweisend. Sind Sie mit dem Erreichten zufrieden?
Der Gelbe Sack und die damit verbundene Herstellerverantwortung für Verpackung haben dafür gesorgt, dass wir nicht in Verpackungsabfällen untergegangen sind. Der Abfall wird so zu allergrößten Anteilen eingesammelt und einer Verwertung zugeführt.
Es bleiben aber stetig steigende Abfallmengen. Im Bereich der Kunststoffverpackungen hat sich die Menge pro Kopf über die vergangenen 20 Jahre verdoppelt. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Treiber: Sich verändernde Konsumgewohnheiten und Familiengrößen, aber auch andere Ernährungsgewohnheiten. Hinzu kommt der Glaube, dass das Problem gelöst sei, sobald der Gelbe Sack abgeholt ist.
Allerdings ist die Verwertungsquote nicht mit der Recyclingquote gleichzusetzen. Denn ein Großteil wird thermisch verwertet. Der Anteil der recycelten Materialien bei Verpackungen ist noch viel zu gering.
Daher müssen wir uns im Hinblick auf die Kreislaufwirtschaft neben der steigenden Abfallmenge auch mit geschlossenen Stoffkreisläufen beschäftigen.
Wie lässt sich Kreislaufwirtschaft erreichen – und wie lassen sich die Abfall-Herausforderungen zukunftsfähig lösen?
100-prozentig lässt sich Kreislaufwirtschaft nicht erreichen, das ist auch nicht das Ziel. Wir müssen uns vielmehr mit der Frage beschäftigen, wie wir den Gesamtressourcenverbrauch auf ein nachhaltiges Niveau bekommen und zum Klimaschutz beitragen können. Es ist völlig okay, Abfall zu haben – allerdings in ertragbaren Mengen.
Zudem müssen wir die Abfälle so gut es geht im Kreis führen. Ohne den Übergang zur Kreislaufwirtschaft werden wir die Klimaziele nicht erreichen.
Abgesehen von den Klimazielen – warum ist das noch wichtig?
Das spielt auch im Hinblick auf Wettbewerb und Kosten eine wichtige Rolle. Die Europäische Kommission ist davon überzeugt, dass wir als Industriestandort nur eine Chance haben, wenn uns der Übergang zur Kreislaufwirtschaft gelingt.
Ein lineares Produzieren, Nutzen, Wegwerfen können andere Regionen in dieser Welt in absehbarer Zeit besser – und vor allem billiger als wir. Deshalb ist die Industrie zunehmend daran interessiert, die potenziellen gigantischen Kosteneinsparungen auch umzusetzen.
Wenn wir dieses Milliardengeschäft in Europa nicht realisieren, verlieren wir viel von unserer industriellen Basis. Dann werden Verpackungen und Kunststoffe demnächst irgendwo auf der Welt produziert, ohne dass sich jemand darum kümmert, ob das zu einer ökologischen Kreislaufwirtschaft beiträgt. Die Frage nach der Machbarkeit stellt sich damit nicht, sie ist alternativlos.
Hat die Industrie das große Potenzial erkannt?
Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt große und kleine Akteure, die das Thema verstanden haben und eine Chance darin sehen. Mittlerweile existieren viele Initiativen, die vor zwei Jahren noch undenkbar waren.
Je intensiver sich Unternehmen mit den EU-Regularien auseinandersetzen, umso mehr wächst das Verständnis für die Kreislaufwirtschaft. Die Industrie hat die Notwendigkeit von Investitionen erkannt. Aber dafür braucht sie Planungssicherheit von der Politik. Aktuell herrscht große Unsicherheit und dementsprechend gibt es einen regelrechten Investitionsstau.
Kann denn chemisches Recycling eine Lösung sein?
Wir beschäftigen uns in verschiedenen Projekten mit den Potenzialen des chemischen Recyclings. Es wird in Europa eine große Rolle spielen, mittlerweile gibt es erste Pilotanlagen.
Insbesondere die Entwicklung in den Niederlanden zeigt, dass dort eine Menge Geld in die Hand genommen wird.
Das chemische Recycling ist ökobilanziell besser als die Verbrennung. Bei nicht recycelbaren Abfällen ist es eine Lösung, gerade für Kunststoffe aus dem Bau- und dem Automobilbereich und auch bei Verpackungen.
Wo liegen dabei die Herausforderungen?
Man darf sich nicht nur die Technik anschauen, sondern auch den Effekt, den große chemische Recyclinganlagen mit sich bringen. Wir beschäftigen uns in der Forschung mit der Frage, wie es gelingt, dass nur die Dinge dort einfließen, die tatsächlich nicht für das mechanische Recycling geeignet sind.
Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass sich die Branche jetzt nicht zurücklehnt und aufhört, in Design für Recycling zu investieren. Innovationen müssen gefördert und gefordert werden. Hierfür bedarf es eines Regelwerks. Gleichzeitig braucht es deutlich stärkere ökonomische Anreize für recyclingfähige Kunststoffverpackungen.
Das Verpackungsgesetz muss dazu führen, dass diejenigen, die sinnvollere Verpackungslösungen auf den Markt bringen wollen, auch einen finanziellen Vorteil haben.
Wie sehen Sie das Potenzial bei Mehrschichtverpackungen?
Meine Aufgabe ist es, sehr monothematisch auf den Ressourcen- und Klimaschutz zu schauen. Vor diesem Hintergrund macht es keinen Sinn, komplett von solchen Multilayer-Funktionen wegzugehen. Es gibt Verpackungen, die machen ökobilanziell Sinn, auch wenn sie nicht recyclingfähig sind.
Man muss Anreize für Unternehmen schaffen, die ökobilanziell besten Lösungen zu nutzen. Das kann auch einmal eine nicht recyclingfähige Kunststoffverpackung sein. Denn das eigentliche Produkt hat häufig einen um den Faktor 50 höheren Impact auf das Klima, z.B. bei Fleischprodukten.
Wenn sich die Lebensmittelverluste erhöhen, weil andere Verpackungslösungen verwendet werden müssen, dann ist aus Ressourcen- und Klimaschutzsicht nichts gewonnen.
Was muss passieren, damit die Kreislaufwirtschaft stärker in Schwung kommt?
Es gibt viele Ansätze und Startups sowie große Unternehmen, die neue Lösungswege aufzeigen. Auch bei Mehrweg gibt es spannende Möglichkeiten, Digitalisierungsansätze zu nutzen. Allerdings mangelt es an einer klaren politischen Vision und Strategie, an der sich Unternehmen orientieren können.
In der Industrie existieren keinerlei Ideen, ob man hierzulande im Jahr 2030 mehr oder weniger Kunststoffe einsetzt, woher der Kunststoff kommen soll oder ob das chemische Recycling anerkannt wird oder nicht. Es fehlt eine klare Verantwortlichkeit in der Politik.
Andere Länder, die bei diesem Thema deutlich schneller vorankommen, besitzen integrierte Strategien. Die Vision und die Ziele sind klar, und jeder kann sich darauf einstellen. Das muss die neue Bundesregierung unbedingt angehen.
Fehlt es an der Vision und einer Führung oder an der Kompetenz?
Es mangelt nicht an der Kompetenz, sondern an den Zuständigkeiten. Das Bundeswirtschaftsministerium und das Umweltministerium haben gemeinsam das Ressourceneffizienzprogramm ins Leben gerufen. Es fühlt sich aber leider häufig niemand verantwortlich, die Dinge umzusetzen.
Das ist keine gute Situation für ein Unternehmen, das viel investieren soll, um neue Lösungen zu entwickeln. Das muss sich ändern.
Wie kann Digitalisierung zur Abfallvermeidung oder zur Förderung einer Kreislaufwirtschaft beitragen?
Das ist einer der zentralen Game Changer. Im Hinblick auf das Kreislaufthema fehlen den Akteuren viele Informationen zur Verpackung bezüglich ihrer Bestandteile, Hersteller, Herstellungsort oder Menge.
Solange das so intransparent ist, bleiben die Unternehmen, die Kunststoffe einsetzen, gerne bei ihrem bewährten Hersteller von primärem Kunststoff. Die Informationen bereitzustellen, kostet eine Menge Geld. Hier kann Digitalisierung massiv helfen.
Beispielsweise mit Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Sortierung. Sie könnte dafür sorgen, dass der Hersteller, der sich mit seiner Verpackung Mühe gegeben hat, auch nur seine Verpackung wieder zurückbekommt. Auch in der Logistik ließe sich mit selbststeuernden Prozessen viel effizienter arbeiten.
Inwiefern ist die Branche bereit für digitale Transformation?
Die Digitalisierung wird das Thema Kreislaufwirtschaft komplett auf den Kopf stellen. Allerdings entwickelt sich das Verständnis der Recycling- bzw. Kreislaufwirtschaftsbranche dafür nur langsam.
Studien zeigen, dass die Potenziale in keinem Sektor so hoch sind, wie bei der Kreislaufwirtschaft und der Materialeffizienz. Aber nirgendwo ist der Umsetzungsstand so niedrig.
Wie stellen Sie sich darauf ein?
Vor diesem Hintergrund haben wir bei uns einen eigenen Forschungsbereich „Digitale Transformation“ geschaffen.
Wir beschäftigen uns hier mit den Einzellösungen und Technologien, die hinter der Digitalisierung stecken und wie sich diese einsetzen lassen.
Digitalisierung ist genau wie Kreislaufwirtschaft nur dann sinnvoll, wenn sie tatsächlich zum Ressourcen- und Klimaschutz beiträgt.
Welche Erwartung haben Sie an eine neue Bundesregierung?
Bei der Kreislaufwirtschaft gab es in der Vergangenheit zu viele billige Schlupflöcher, die stets ausgenutzt wurden. Es wurde viel verbrannt, exportiert und deponiert. Hier muss der Staat einen Rahmen setzen und eine integrierte Strategie vorgeben.
Kreislaufwirtschaftspolitik ist Wachstums- und Innovationspolitik. Dafür braucht es eine Strategie, die von allen Ministerien mitgetragen wird. Das darf sich nicht nur im Abfallrecht, sondern muss sich auch im Finanzrecht widerspiegeln. Kreislaufwirtschaftliche Modelle dürfen nicht nur nicht benachteiligt werden, sondern müssen echte Vorteile bringen. Es ist notwendig, hierfür Anreize zu schaffen.
Und wie sieht es auf EU-Ebene aus?
Die Europäische Kommission ist bereits zwei Schritte weiter. Sie hat mit ihrem Aktionsplan klar die Dinge vorgegeben, die angegangen werden sollen. Sicherlich hat die Industrie in vielen Dingen Einwände, aber eine solche Diskussion fehlt in Deutschland komplett. Wir wissen zu selten genau, wo die Politik hinmöchte.
Deutschland könnte zum Vorreiter werden und langfristig nachhaltige Modelle entwickeln, wie man mit Kunststoff in der Kreislaufwirtschaft umgehen kann. Bislang bekommen wir unsere PS jedoch noch nicht auf die Straße.
Wie kann unsere Gesellschaft zu einer Veränderung beitragen?
Es gibt viele Möglichkeiten, mit einem veränderten Konsumverhalten zur Kreislaufwirtschaft beizutragen. Viele Menschen spüren, dass sie nicht nachhaltig leben. Allerdings werden sie allein gelassen.
Wir haben eine solche Flut an Labeln, an Schlagworten – wiederverwendbar, kreislauforientiert, recyclingfähig – und kein Mensch weiß, was das eigentlich bedeutet. Zudem weiß der Konsument nicht, welches Unternehmen sich tatsächlich engagiert und investiert, um zielführende Lösungen anzubieten und welches einfach nur auf den Zug aufspringt und Greenwashing betreibt.
Die Politik muss für Transparenz sorgen. Aktuell gibt es bei den Verbrauchern eine sehr hohe Bereitschaft, sich mit solchen Themen zu beschäftigen und auch einmal anders zu konsumieren.
Was machen denn andere europäische Länder besser als Deutschland?
Es gibt sehr unterschiedliche Herangehensweisen in anderen Ländern, aber keine lässt sich einfach so auf Deutschland übertragen. In den Niederlanden gibt es Konzepte der Green Deals. Regeln, die Kreislaufwirtschaft verhindern, werden übergangsweise für drei Jahre außer Kraft gesetzt, um Dinge beispielsweise im Umfeld des chemischen Recyclings einmal auszuprobieren.
Anschließend findet eine umfassende Evaluierung statt und es wird entschieden, ob sich das lohnt oder nicht. Das verkürzt die Zeit für die Entwicklung von Innovationen und deren Marktreife ganz enorm.
In Deutschland führen wir jahrelange Diskussionen darüber, ob etwas machbar oder regelkonform ist. Es passiert aber nichts. Dinge werden erforscht, kommen aber nie in die Anwendung. Da gibt es in den Niederlanden Instrumente, die ich sehr spannend finde.
In einem Zentralstaat wie Frankreich lassen sich Initiativen nochmal anders top-down regeln. Allerdings ist Deutschland kein Zentralstaat und wir müssen auch nicht die Föderalstruktur ändern.
Und wie sieht es weltweit aus?
Auch ein Blick nach China lohnt sich. Es ist beeindruckend, mit wieviel Strategie und Power Digitalisierungsthemen angegangen werden. Gleichzeitig muss man sich auch fragen, ob sich die Sammlung und Auswertung der Daten mit Blick auf Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung immer rechtfertigen lässt.
Es gibt in Europa und gerade in Österreich tolle Pilotprojekte, die Sortierqualität von Abfällen automatisch zu erfassen, und den Verbraucher:innen ein direktes Feedback zu geben, wie gut sie sortiert haben. Dieses Feedback hilft enorm und verbessert die Sortierqualität.
Aber Ihre Wahrnehmung ist schon, dass in vielen Teilen dieser Welt etwas passiert?
Wir halten uns in Deutschland für Recycling-Weltmeister. Das sind wir auch. Wir können den Abfall sehr gut loswerden. Wenn wir uns die Kernindikatoren für Kreislaufwirtschaft der Europäischen Kommission anschauen und den Anteil an recycelten Materialien in der Wirtschaft, dann sind wir nur Mittelmaß.
Und wir sind nur deshalb nicht unterdurchschnittlich, weil England aus der EU raus ist. Bis 2020 waren wir näher an Bulgarien als an den Niederlanden. Andere Länder haben das Thema Abfallwirtschaft strategisch für sich erkannt, schaffen Strukturen und fördern Unternehmen. Sie haben sich klare Ziele gesetzt, um von diesem Markt zu profitieren.
Sind deshalb die Abfallvermeidungsziele der Europäischen Kommission so wichtig?
Ja, sicher, ich bin sehr froh, dass die Europäische Kommission angekündigt hat, europäische Abfallvermeidungsziele zu definieren. Wir haben Recyclingquoten; die wurden gerade erhöht.
Das stellt die Industrie vor Herausforderungen. Jedem ist bewusst, dass vieles verändert werden muss und dazu neue Technologien notwendig sind. Aber die Abfallvermeidungsziele und die damit verbundenen Konsequenzen bei Einhaltung bzw. Nichteinhaltung werden eine ganz neue Debatte auslösen.
Das wird eine sehr spannende Entwicklung, gerade im Hinblick auf Marketingeffekte oder beispielsweise Mehrweglösungen.
Und wo steckt noch ungenutztes Potenzial?
Es gibt einzelne Unternehmen, die tatsächlich vorangehen, sich Ziele setzen und diese strikt verfolgen. Ein Punkt, der noch viel zu wenig Einfluss hat, sind potenzielle Kosteneinsparungen, die sich durch Abfallvermeidung erzielen lassen. Dazu wollen wir am Wuppertal Institut in den nächsten Jahren intensiv forschen.
Ich bin davon überzeugt, dass Unternehmen, wenn sie besser wüssten, wo sich Abfallvermeidung auch aus ökonomischer Sicht rechnet, einen ganz anderen Spirit entfachen könnten.
Herr Dr. Wilts, vielen Dank für das Gespräch!
Über Dr. Henning Wilts
Dr. Henning Wilts ist seit 2010 für das Wuppertal Institut tätig und hatte mehrere leitende Positionen inne. Seit August 2018 ist er Abteilungsleiter Kreislaufwirtschaft. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Themen Transformationsprozesse zur Kreislaufwirtschaft, Ökonomie der Abfallvermeidung, Umweltbewertung von Abfallvermeidungsmaßnahmen und Ressourceneffizienz.
Wuppertal Institut
Das Wuppertal Institut versteht sich als führender internationaler Think Tank für eine Impact- und anwendungsorientierte Nachhaltigkeitsforschung. Im Fokus der Arbeiten steht die Gestaltung von Transformationsprozessen hin zu einer klimagerechten und ressourcenleichten Welt. Übergeordnetes Ziel der Institutsarbeit ist es, einen Beitrag zur Einhaltung der planetaren Grenzen zu leisten. Dieses Ziel konkretisiert sich im Leitbild einer „treibhausneutralen ressourcenleichten Gesellschaft“ bis zum Jahr 2050.